Neues Archivrelease: WINF – Elektrosexualchemie

Das Aufkommen sozialer Netzwerke in der zweiten Hälfte der 2000er Jahre bedeutet zunächst einen Segen für viele elektronische Musiker, da Plattformen wie Myspace, Youtube und später auch Facebook wie dafür geschaffen schienen, digital erzeugte elektronische Musik zu verbreiten. Der vermeintliche Segen wurde jedoch rückblickend auch zum Fluch, da die Digitalisierung der sozialen Interaktion auch einen schleichenden Rückzug in die Abgeschiedenheit von Büro- und Wohnräumen mit sich brachte. An die Stelle von Sessions mit anderen Musikern trat der digitale Austausch digitaler Daten. Und selbst im privatesten Bereich, bei Partnersuche und Familienplanung, ersetzten digitale Plattformen das erste Kennenlernen von Angesicht zu Angesicht.

Im Sog dieses Zeitgeists war das experimentelle Elektro-Projekt WINF bis 2010 auf den Mitbegründer P23 und seine damalige Partnerin Seymog zusammengeschrumpft, die in einer bizarren Symbiose ihre musikalischen und sexuellen Grenzen ausloteten und die Ergebnisse der gemeinsamen elektronischen Aufnahmesessions meist zeitnah auf Youtube veröffentlichten. Im Zeitraum bis 2012 entstanden ungefähr ein Dutzend gemeinsame Stücke, von denen die meisten nun zum Album „Elektrosexualchemie“ (PONKOFF CD 072) zusammengefasst wurden. Neben den gemeinsamen Stücken entstanden im genannten Zeitraum auch Soloaufnahmen beider Künstler, die hier unberücksichtigt bleiben sollen.

Es handelt sich bei allen Stücken um instrumentale elektronische Musik, im Grenzbereich von Ambient, Industrial und Techno. Die gefälligsten Stücke des Albums sind sicher die alle im Juli 2011 entstandenen Tracks „Gymnastics“, „Earl Grey“ und „Gear Drive“, die nicht nur in zeitlicher Nähe entstanden sind, sondern im Fall der beiden letztgenannten auch ein sehr ähnliches, ambient-technoides Klangbild aufweisen. Andere Stücke wie „Squid Grid“ oder „Lion & Mouse vs. Hollis & Skin“ sind dagegen weniger von Beats und stattdessen eher von dunkler Atmosphäre und filtermodifizierten Drones geprägt.

Zu den meisten Tracks entstanden symbolistisch aufgeladene oder auf psychedelische Assoziationen abzielende Videoclips. Das Covermotiv des Albums ist ein Standbild aus dem Clip zu „Alone at home“ vom Juni 2011.

Als die private Bindung von P23 und Seymog zu Beginn des Jahres 2012 in die Brüche ging, endete auch ihre musikalische Zusammenarbeit. Bald würde sich auch zeigen, dass die für die damalige Zeit noch maßgeblichen Plattformen wie Youtube oder Facebook auch nicht uneingeschränkt als alleiniges Medium zur Verbreitung experimenteller Medieninhalte taugen würden, die immer häufiger mit inhaltliche Beschränkungen und den auf Werbeeinnahmen optimierten Algorithmen in Konflikt kamen. Wenige Jahre darauf kehrte P23 mit seinen Projekten wieder zur auf Tonträger ausgerichteten Musikproduktion zurück, die soziale Netzwerke nur als Ergänzung, aber nicht mehr wie im Aufnahmezeitraum dieses Albums als alleinigen Verbreitungskanal nutzt.

Mit dem nun vorliegende Release „Elektrosexualchemie“ ist jedenfalls eine wichtige dokumentarische Lücke in der Diskographie des Projekts WINF geschlossen, indem die vormals nur als Einzeltracks bei Youtube verfügbaren Titel der Jahre 2010 bis 2012 nun in einer thematisch und klanglich stimmigen Zusammenstellung auch auf CDR (bzw. als mp3-Dateien) vorliegen.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten